Wer die Wahl hat… (hört interessante Musik)

Womit soll ich nach dieser langen Pause anfangen? Als ich den letzten Beitrag schrieb, ahnte noch niemand, dass uns eine Pandemie und ein Krieg in Europa bevorstehen würden. Inzwischen habe ich die 60 überschritten und mein Leben plätschert trotz des Chaos um mich herum ruhig vor sich hin. Und das finde ich gut so, schließlich habe ich nicht vor, frühzeitig an einem Herzinfarkt zu sterben.

Aufregung hatte ich vor ca. zwei Wochen, als ich mir (auch aus Anlass meines Geburtstags) ein klassisches Gitarrenkonzert im heimischen Wohnzimmer gönnte. Und wer jetzt glaubt, wir hätten uns dazu vorm Bildschirm oder den Lautsprechern versammelt, befindet sich auf dem Holzweg. Die Frankfurter Gitarristin Heike Matthiesen kam zu Besuch und bot uns live und quicklebendig einen Querschnitt durch ihr Repertoire.

Da sich einige Leser und Leserinnen vielleicht nicht in der Welt der klassischen Gitarre auskennen: Ich hab’s auch mal probiert, bin jedoch nie über die „Regionalliga“ hinausgekommen. Heike spielt in der „Champions League“ und hat sich – auch an jenem Abend – auf zwei musikalische Gebiete konzentriert: Einerseits klassische spanische Gitarrenmusik – vielleicht sind Komponisten wie Albeniz, Tarrega oder Sor dem Einen oder der Anderen ein Begriff? Und andererseits schlägt ihr Herz für weitgehend unbekannte Komponistinnen der Romantik.

Von denen scheint es gar nicht wenige zu geben, nur ist deren Musik in schriftlicher Form, also als Notenblätter, leider kaum überliefert worden. Es wäre kein Konzert von Heike gewesen, wenn diese zwischendurch nicht auch Wissenswertes über die Komponistinnen der Werke erzählt hätte. Ich gebe zu, dass deren Namen mir bis zu diesem Zeitpunkt fremd waren. Einzige Ausnahme war Madame Sidney Pratten, auf deren Namen ich aber auch erst stieß, als ich im Vorfeld des Hauskonzertes nach Heike Matthiesen googelte.

Um diese Musikerinnen zu entdecken, zu erforschen, und dann auch bekannter zu machen, engagiert sich Heike sehr im Archiv Frau und Musik, welches ebenfalls in Frankfurt am Main beheimatet ist. Ich selbst entdecke immer wieder gerne „neue“ Musik, in dem Sinne, wie Columbus Amerika entdeckte: Natürlich gibt es diese Musik bereits irgendwo (so wie der Kontinent Amerika mitsamt seiner Ureinwohner schon vor Columbus existierte). Doch hat es für mich immer wieder auch den Reiz des Unbekannten, Musik zu entdecken, die kaum jemand kennt. Ob ich diese neuentdeckte Musik dann auch schön oder interessant finde, zeigt sich meistens nach mehrmaligem Anhören. Aber dazu muss ich sie erst einmal entdeckt haben!

Ich kann also Heikes Leidenschaft auf meine Weise gut nachvollziehen. Und nach dem Konzert ist bei mir vor allem der Name Maria Linnemann im Gedächtnis geblieben, eine Komponistin, deren Werke ich mir demnächst noch einmal genauer anhören werde.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich etwas abschweifen und auf zwei andere Geburtstagsgeschenke eingehen, die beide mit Musik bzw. einer Komponistin zu tun haben. Ich bekam den Soundtrack zu „Ghost in the Shell: Stand Alone Complex“ und eine komplette DVD-Ausgabe von „Cowboy Bebop“. Das sagt wahrscheinlich nur Liebhabern und Liebhaberinnen japanischer Animefilme und -serien etwas. Für beide Serien schrieb Yoko Kanno die Musik.

Bekannte japanische (Film-)Komponisten sind bzw. waren der kürzlich verstorbene Ryuichi Sakamoto und Joe Hisaishi, der vor allem durch die zauberhaften musikalischen Untermalungen von Filmen des Regisseurs Hayao Miyasaki und des Studios Ghibli bekannt wurde. Man muss dazu wissen, dass man in Japan ein völlig anderes Verhältnis zu Mangas und Animes hat als in Deutschland. Bei uns galten „Comics“ und „Trickfilme“ noch bis vor gar nicht so langer Zeit als Freizeitbeschäftigung von Kindern. Daher war es bei uns bislang auch nicht besonders hochangesehen, für so etwas (oder gar für Videospiele!) Musik zu schreiben. Dementsprechend anspruchslos geriet auch die meiste Musik.

In Japan dagegen war und ist das völlig anders. Man kann sich dort zwar ebenfalls für europäische Klassiker wie Bach und Beethoven begeistern, scheut sich aber auch nicht, Musik aus Videospielen orchestral aufzuführen. Das ist eine Kunstform, die bei uns „im Westen“ nicht existiert. Wir sind gerade mal soweit, dass auch Filmmusik immer mehr in die Konzertsäle kommt.

Yoko Kanno begann ebenfalls als Komponistin für Videospiele, die in Japan jedoch einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland genießen. Laut Wikipedia komponiert sie seitdem auch „für Anime, Live-Action Filme, Dokumentationen, Solo-Alben, TV-Werbungen und für sich selber“. Außerdem ist sie der Kopf der Band „Seatbelts“, welche grob irgendwo zwischen Blues und Jazz eingeordnet wird.

Das Faszinierende ihrer Musik in meinen Ohren ist aber gerade, dass man Yoko Kanno schlecht auf einen Stil festlegen kann. Die Animeserie „Cowboy Bebop“ kenne ich überhaupt nicht, vielleicht gefällt sie mir auch nicht. Aber die hochgelobte Musik der Serie stammt von Yoko Kanno, und allein deswegen muss ich mir diese Serie anschauen.

Wenn Ihr mal in das Debutalbum „Song to Fly“ (1998) von Yoko Kanno hineinhört, dann werdet Ihr eine Überraschung nach der anderen erleben (Neugier auf interessante Musik setze ich einfach mal voraus). Schon der Anfang erinnert mich (nicht ganz zufällig) an „Le Mystere des Voix Bulgares“, eine Musik, die ich Mitte der Achtziger zum ersten Mal hörte.

An diesen Moment erinnere ich mich noch sehr genau. Ich fuhr damals Taxi in der Nachtschicht, stand nach Mitternacht am Braunschweiger Dom und wartete auf Fahrgäste. Dabei hörte ich eine Sendung auf BFBS, in der zwei Moderatoren sich gegenseitig sehr exotische Musik vorspielten, die sie auf ihren Reisen durch die Welt entdeckt hatten. (Später erfuhr ich von einer anderen Bekannten namens Heike, dass mit dieser Musik in der DDR wohl schon Schüler und Schülerinnen gequält wurden, und sie ihr daher leider nichts mehr abgewinnen konnte.)

Nun saß ich also nachts alleine im Auto und hörte völlig ahnungslos den Gesang bulgarischer Frauenchöre. Und da ich nur mit einem Ohr den Moderatoren zugehört hatte, hatte ich keinen blassen Schimmer, worum es sich dabei handelte. Ich war nicht einmal in der Lage, das Herkunftsland zu „schätzen“, denn so etwas hatte ich noch nie zuvor gehört.

Im Folgenden versuchte ich dann, diese Musik auf Schallplatte zu erwerben, denn CDs gab es damals noch nicht. Und ich habe nach einigen Wochen tatsächlich meine beiden teuersten Schallplatten in der Hand gehalten: Jede der Scheiben hat mich damals 35 DM gekostet, was gemessen an den damals üblichen Plattenpreisen schon ein kleines Vermögen war.

Diese Musik wurde ein paar Jahre später auch von Kate Bush entdeckt und tauchte dann auf ihrem nächsten Album auf. Und in diesem Jahrtausend fand ich sie dann völlig unerwartet auf dem Album von Yoko Kanno wieder, der ich mich nun nochmal zuwenden möchte.

Yoko Kanno scheint mir ebenfalls (zumindest musikalisch) durch die ganze Welt gereist zu sein, und baut ihre „Fundstücke“ in ihre Musik ein. Ähnliches taten auch Sakamoto und Hisaishi. Sie schreckt dabei jedoch auch nicht vor Jazz oder modernen Einflüssen zurück. Vielleicht ist das die Zukunft der Musik bzw. die Musik der Zukunft? Denn wirklich Neues lässt sich kaum noch erschaffen. Stattdessen „komponiert“ man im doppelten Sinne aus verschiedenen Komponenten ungeachtet des Stils und der Epoche etwas Interessantes, in dieser Form noch nie dagewesenes.

In der deutschsprachigen Wikipedia findet man leider nur sehr wenig über Yoko Kanno. Aber in der japanischen heißt es unter Anderem:

クラシックから民族音楽、ロック、テクノ、アイドルポップまで、古今東西の多様な音楽ジャンルの要素を巧みに取り入れる。

https://ja.wikipedia.org/wiki/%E8%8F%85%E9%87%8E%E3%82%88%E3%81%86%E5%AD%90

Google übersetzt dies folgendermaßen:

Von klassischer Musik über Volksmusik bis hin zu Rock, Techno und Idol-Pop integriert er gekonnt Elemente verschiedener Musikgenres aus aller Welt.

Wobei „er“ vermutlich der maschinellen Übersetzung aus dem Japanischen geschuldet ist.

Das Vorurteil, dass Videospiele, Animes und Popmusik nur etwas für junge Leute seien, widerlegt die 60jährige Japanerin ganz einfach durch ihre Biographie. Ich finde es im Gegenteil traurig, wenn Leute aus meiner Generation (zu der auch Heike Matthiesen gehört) mit ihrem musikalischen Geschmack bei Joe Cocker und Tina Turner enden, schlimmstenfalls in Deutschland sogar bei den Flippers oder den Amigos. Ja, auch das ist Musik, aus meiner Sicht jedoch schon sehr grenzwertig.

Daher mein Appell nicht nur an die Babyboomer: Bleibt neugierig! Hört Euch Heike Matthiesen und Yoko Kanno an, falls Ihr sie noch nicht kennt. Erst wenn man etwas (möglichst mehrmals) gehört hat, kann man sagen, ob einem das gefällt. Musik, die man nicht kennt, deswegen aus Prinzip abzulehnen, finde ich traurig. Denn Musik ist immer Leidenschaft, selbst wenn man das z.B. den Amigos nicht wirklich ansieht, bevor sie ihre Kontoauszüge betrachten.

Musiker und Musikerinnen, Profis wie Heike, Amateure wie ich, widmen dieser Leidenschaft viel Zeit und Geld. Für „Außenstehende“ sieht das daher ein wenig verrückt aus, wenn ich viel Geld spende, damit Heike ihre neueste CD besser unter die Menschheit bringen kann, und sie im Gegenzug einige Stunden ihrer Zeit opfert, um ein paar Menschen ein besonderes musikalisches Erlebnis zu bieten.

Es muss ja auch nicht jeder eine Leidenschaft für Musik entwickeln. Es gibt viele andere Leidenschaften, von denen ich so manche auch nicht wirklich nachvollziehen kann. Aber ich bewundere es immer, wenn sich jemand leidenschaftlich einer Sache widmet. In meinem Fall ist es die Musik, und daher möchte ich diesen ersten Blogbeitrag nach langer Wartezeit mit einem berühmten Zitat von John Miles enden:

„Music was my first love
And it will be my last
Music of the future
And music of the past

To live without my music
Would be impossible to do
In this world of troubles
My music pulls me through“

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